Donnerstag, 28. Februar 2019
Welches Ich hätten wir denn gern?
Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich - mich. Also ich sehe ein Abbild meines Ich's. Ein vertikal spiegelverkehrtes auch noch. Wenn ich z.B. mit der linken Hand die Narbe an meiner linken Augenbraue berühre, vollführt mein gespiegelter Gegenüber die gleiche Bewegung mit der rechten Hand an die rechte Augenbraue. Jedenfalls sieht es für mich so aus.
Wenn sich zwei Rechtshänder per Handschlag begrüßen wollen, kreuzen sich die rechten Arme vor dem Körper, damit sich die Handflächen berühren können. Versuchen sie das mal mit ihrem Spiegelbild!

Trotz dieser Einschränkung; ohne Spiegel wüssten wir gar nicht, wie wir aussehen. Wie ein Mensch, der blind geboren wird. Der also keine realistische Vorstellung davon haben kann, wie er aussieht.
Obwohl sehende Menschen ja wenigstens ihren Körper betrachten können. Jedenfalls so weit es ihr Blickfeld und die Beweglichkeit des Halses zulassen.
Aber ausgerechnet das auf Ausweisdokumenten entscheidende Identifikationsmerkmal, das Gesicht, bliebe uns verborgen.
Würden wir uns auf einem Porträtfoto wiedererkennen?
Das da soll ich sein?
Kann ich mal bitte ein Ganzkörperbild haben?
Ah ja, der Schwabbelbauch und die X-Beine kommen mir bekannt vor!

Selbst wenn wir unser Spiegelbild in- und auswendig kennen, sind wir doch oft überrascht, wenn wir Fotos von uns sehen; uns quasi mit den Augen eines Fremden betrachten. Das soll der Selbe sein, den ich jeden Morgen im Spiegel sehe?

Wenn sich das komplette Umfeld von Michail Gorbatschow (aus welchen Gründen auch immer) dazu entschlossen hätte, ihm nichts von seinem riesigen Muttermal auf dem Kopf zu sagen, hätte er davon keine Ahnung. Vorausgesetzt, er hätte noch nie sein Spiegelbild oder Fotos von sich gesehen. Es kann also kein Teil seines Ich's sein, sonst wüsste er ja davon.
Aber alle anderen können es sehen. Für sie ist das Muttermal auf jeden Fall Teil seines Ich's. Ein sehr charakteristischer Teil sogar. Der ihn einzigartig macht.
Selbst eineiige Zwillinge haben kleine Unterschiede, die sie einzigartig machen.
Nur Klone nicht!

Wir Menschen legen großen Wert darauf, als einzigartige Individuen wahrgenommen zu werden.
Doch woraus speist sich diese Vorstellung vom einzigartigen Ich?
Nur das rein Äußerliche kann es nicht sein.
Schönheitschirurgen, die Schlauchbootlippen, Wespentaillen und Monsterbusen basteln, erschaffen keine neuen Menschen. Sie "verkörpern" lediglich die durch Geltungssucht und verkümmertes Selbstwertgefühl entstandenen Aufwertungsfantasien der bedauernswerten Kreaturen.
Ist also Selbstwertgefühl mein wahres Ich?
Oder nur in Verbindung mit meiner Hülle?
Kann und darf man Körper und Geist überhaupt getrennt betrachten?

Der menschliche Körper besteht aus Zellen. Diese erneuern sich. Immer und immer wieder. Nach einer gewissen Zeit hat sich dieser Körper also komplett erneuert. Er besteht nicht mehr aus den selben Zellen wie zur Geburt.
Trotzdem bleibt man der selbe Mensch.
Der Geist oder die Seele werden gemeinhin im Gehirn vermutet. Dort sitzt schließlich die Schaltzentrale. Auch wenn Romantiker den Sitz der Seele lieber ins Herz verlagern würden. Im Gehirn laufen die entscheidenden Prozesse ab, die unser Wesen bestimmen. Wenn, wie während der Pubertät, das Gehirn neu verschaltet wird, kann es zu beachtlichen Wesensänderungen des betroffenen Teenagers kommen. Glücklicherweise meist nur kurzfristig. Bei Unfall- oder Gewaltopfern, sowie bei neuronalen Erkrankungen kann es zu Schädigungen einzelner Hirnareale kommen, die massive Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit haben. Manchmal dauerhaft.
Trotzdem bleibt man der selbe Mensch.
Jedenfalls laut Ausweis.

Neuronale Schäden können so gravierende Veränderungen hervorrufen, dass man glaubt, eine andere Person vor sich zu haben. Zu den sichtbaren Veränderungen wie eingeschränkter Motorik und Sprachfähigkeit, dem Verlust speziellen Wissens oder dem Vorhandensein neuer Fähigkeiten (z.B. Fremdsprachen) kann es passieren, dass die Betroffenen sich selbst nicht mehr erkennen. Weder von außen noch von innen.
Wie viele Menschen glauben, im falschen Köper gefangen zu sein?

Wenn das Individuum und die Umwelt übereinstimmend der Meinung sind, nicht mehr der Selbe zu sein - ist man dann noch der Selbe?
Wie wichtig ist ein unveränderliches Ich wirklich?
Es gibt die von Vielen geteilte Meinung: "Menschen können sich ändern". Damit ist aber eigentlich eine Veränderung aus eigenem Antrieb gemeint.
Gibt es graduelle Abstufungen, wie weit man sich ändern darf, ohne das eigentliche Ich zu verleugnen?

Die Geheimnisse und Funktionsweisen des menschlichen Körpers wurden und werden weiterhin so gut entschlüsselt, dass praktisch so gut wie alles repariert und ersetzt werden kann - Knochen, Haut, Organe, ganze Gliedmaßen. Mit der Entschlüsselung unserer DNA wurde das Tor zum nächsten Level aufgestoßen - Optimierung. Leistungsfähiger, schöner, gesünder und frei von Erbkrankheiten - danke Evolution (oder Gott), wir übernehmen jetzt! Nächstes Ziel - Unsterblichkeit!
Mit einem unveränderlichen Ich kaum zu machen!

Auch die Neurobiologen schicken sich an, massiv in die Natur des Menschen einzugreifen. Je mehr Einblicke sie gewinnen, welche Gehirnareale für welche Prozesse zuständig sind, welche Transmitter und Botenstoffe welche Reaktionen auslösen, wo Gefühle, Empfindungen und Erinnerungen produziert und gespeichert werden und wie dieses einzigartige Zusammenspiel unser individuelles Ich ausmacht, umso größer die Versuchung, manipulierend einzugreifen.

Niemand hat etwas dagegen, wenn Taube wieder hören, Blinde wieder sehen und Unfallopfer ihre Prothesen mittels mentaler Befehle steuern können. Nicht viele würden sich wehren, wenn Anlagen zu Erbkrankheiten schon vor der Geburt beseitigt werden könnten.
Doch dann wird's schon knifflig; Down-Syndrom, Autismus, Missbildungen - alles beseitigen?
Und wie wär's mit verbesserter Fettverbrennung, erhöhter Gedächtnisleistung und blauen Augen? Könnte man da vielleicht was machen?
Es muss ja nicht gleich eine Mischung aus Einstein und Schwarzenegger werden, aber ein paar kleine Optimierungen könnten schon helfen, mein eigenes Ich aufzuwerten.
Und wenn wir schon dabei sind; könnte bitte jemand endlich dafür sorgen, dass diese vernunftfähigen Affen aufhören, sich solch unnütze Fragen zu stellen wie: "Wer bin ich?", "Was soll ich hier?", "Hat mein Leben einen Sinn?".
Die sollen konsumieren, erst in die Glotze und dann in die Röhre schauen und uns Zugriff auf ihre Daten (und Gehirne!) geben, damit wir sie noch effektiver verarschen können!

Von wegen eigenes Ich!

P.S. Wem das alles zu grob skizziert ist, dem empfehle ich Richard David Precht "Die Kunst kein Egoist zu sein" und "Wer bin ich und wenn ja, wie viele?", sowie Yuval Noah Harari "Homo Deus" und "21 Lektionen für das 21.Jahrhundert".

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