Dienstag, 15. Dezember 2015
Höhlengeschichte
In einem weit verzweigten Höhlensystem lebten einst verschiedene Stammeshorden von unterschiedlicher Größe. Obwohl sie zur selben Rasse gehörten, hatten sie sich doch sehr individuell entwickelt.
Angestachelt von ihren Stammesführern und der ewigen Ressourcenknappheit, hatten sie sich immer wieder bekriegt, bis sie sich in einer großen Entscheidungsschlacht arg dezimiert hatten. Besonders unrühmlich hatte sich dabei der Clan aus einer der zentral gelegenen Höhlen aufgeführt. Nach allen Seiten austeilend, versuchten die sich mit allen Nachbarn gleichzeitig anzulegen.
Wenn man einen Stein in einen Wassereimer fallen läßt, breitet sich die Welle so lange konzentrisch aus, bis sie auf den Eimerrand trifft und von dort zurück geworfen wird, um zum Zentrum zurück zu kehren. So kehrte auch der Krieg an seinen Ursprungsort zurück und zwang den Clan letztendlich in die Knie.
Zur Strafe und aus Angst vor einer Wiederholung beschloss die Gemeinschaft der Sieger, den kriegerischen Clan so weit zu zerstückeln, dass er nie wieder eine Gefahr darstellen konnte.
Gesagt, getan.

Die Jahre gingen in's Land und der Clan aus der Mitte schien seine Lektion wirklich gelernt zu haben. Aus ehemaligen Gegnern wurden Partner, manchmal sogar Freunde. Und so hatte niemand etwas dagegen, als der Zentralclan seine Zerstückelung aufhob und wieder mit einer Stimme sprach. Mit einer mittlerweile sehr mächtigen Stimme!

Und es gab eine Menge zu besprechen!
Während die einen gute Jäger waren, hatten die anderen ein glücklicheres Händchen beim Ackerbau. Während die Handelswege größtenteils durch die zentralen Höhlen verliefen, punkteten die äußeren Höhlen oft nur durch ihre schöne Aussicht.
Und dann gab es ja auch noch Bedrohungen von außen, die das ganze Höhlensystem betrafen: Raubtiere, Unwetter, feindliche Clans.

Also trafen sich die Stammesführer zum großen Pow Wow und beschlossen, ihre Kräfte künftig zu bündeln. Das Zusammenleben sollte einfacher werden. Kein Hunger mehr! Kein Krieg mehr! Wohlstand für alle!
Beeren und Früchte sollten eine vorgeschriebene Größe haben, Tierhäute eine bestimmte Qualität, die bunten Steine zum Bezahlen eine einheitliche Farbe. Wer von einer Höhle in eine andere wollte, wurde nicht mehr aufgehalten, selbst wenn er ein fremdes Weibchen hinter sich her zog.

Treibende Kraft hinter dem Vorhaben war der Zentralclan, der es geschickt verstand, die Regelungen so zu formulieren, dass er am meisten davon profitierte. Das blieb auch den anderen Clans nicht verborgen. Und so geschah es, dass sich trotz allgemeinem Aufschwungs eine Gruppe von Unzufriedenen bildete.
Langsam trat zutage, dass die Stammesführer bei ihrer Übereinkunft zwei entscheidende Fehler gemacht hatten.
Erstens hatten sie nicht bedacht, dass, wenn sich die Lebensqualität für alle Clans einheitlich verbessert, die schwächsten Clans trotzdem die schwächsten bleiben würden; und zweitens, dass sie schlichtweg vergessen hatten, ihre Stammesmitglieder um ihre Meinung zu fragen.

Trotz aller internen Querelen war man draußen auf dieses seltsame Modell aufmerksam geworden. Erfolg erzeugt Bewunderer und Neider, Licht und Schatten.
Während die Neider immer stärker versuchten, die Gemeinschaft vereinter Höhlen anzugreifen, zog es die Bewunderer wie Motten zum Licht. Und dieses Licht vermuteten sie in diesem sagenumwobenen Höhlensystem, während draußen Hunger und Verfolgung wie Schatten über dem Land lagen.

Also kamen sie, erst Hundert, dann Tausend, bald Zehntausend. Unter die Bewunderer mischten sich immer mehr Vertriebene. Die äußeren Höhlen wurden regelrecht überrannt. Die Höhlenbewohner bekamen es mit der Angst zu tun. Wofür hatten sie all die Entbehrungen auf sich genommen? Damit sich diese Fremden in's gemachte Nest setzen konnten?

In diesem Moment erhob der Zentralclan seine mächtige Stimme. Dieser wurde mittlerweile von einem dominanten Weibchen angeführt, dass seine Muttergefühle wieder entdeckt hatte und zu den Neuankömmlingen sprach: "Kommt zu mir! Ich weise niemanden ab!"
Wieder einmal über die Köpfe der Stammesmitglieder hinweg!

Wie eine Sintflut wälzte sich der Strom der Fremden auf der Suche nach dem gelobten Land durch das Höhlensystem. Und nun zeigte sich, wie unterschiedlich die einzelnen Clans noch immer gestrickt waren. Während einige ihr Los klaglos ertrugen und nur eine gewisse Unterstützung ihrer Nachbarn einforderten, machten andere aus ihrer Abneigung kein Hehl. Während einige bereit waren, ihren Wohlstand mit den Hilfe suchenden zu teilen, hatten andere nichts besseres zu tun, als ihre Höhleneingänge zu verbarrikadieren.

Doch auch im Zentralclan rumorte es gewaltig. Die, die in den letzten Jahren am meisten gewonnen hatten, konnten jetzt natürlich auch am meisten verlieren.

Und so kam es, dass sich in vielen Hohlräumen immer mehr Stimmen erhoben, die nicht nur die aktuellen Entscheidungen ihrer Stammesführer, sondern gleich den ganzen Verbund vereinter Höhlen in Frage stellten.

Und die Flüchtlinge? Denen dämmerte so langsam, dass das Licht am Ende des Tunnels auch ein fackelbewehrter Mob sein konnte.

Wie wird diese Geschichte ausgehen? Keine Ahnung!
Die Höhlenbewohner müssen entscheiden.
Erstens, wem sie zukünftig die Führung übertragen; und zweitens, ob sie sich wieder in die zweifelhafte Geborgenheit ihrer kleinen Höhle zurück ziehen wollen.

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