Samstag, 5. September 2015
Ein Bild
Das Grauen hinter menschlichen Tragödien wird meistens erst dann begreifbar, wenn es ein Gesicht bekommt. Selbst wenn mann es nicht sehen kann.
Dieses Bild. Es läßt mich nicht los. Dabei sieht es so harmlos aus. Fast friedlich.

Ein kleiner Junge liegt am Strand. Auf dem Bauch. Sein Gesicht ist abgewand. Er scheint unverletzt zu sein.
Warum liegt er da? Warum ist er vollständig bekleidet?

Etwas krampft sich in mir zusammen.

Warum rührt er sich nicht? Weil es ein Foto ist! Und weil er tot ist!
Tot? Wieso liegt da ein kleiner toter Junge am Strand?!
Was ist mit seiner Familie? Warum ist niemand bei ihm?

Das krampfartige Gefühl weicht Traurigkeit.

Er sieht so einsam aus. So verlassen. Keiner kümmert sich um ihn.
Ein Uniformierter trägt ihn weg. Sein Gesichtsausdruck verrät nichts über seine seelische Verfassung. In seinen Armen wirkt der Junge noch kleiner. Die Füße baumeln herunter. Sie werden nie wieder laufen!

Erst jetzt krallt sich ein grauenvoller Gedanke in mein Hirn.

Was, wenn es mein Kind wäre? Ertrunken. Aus dem Leben gerissen und angespült wie Treibholz. Und die ganze Welt sieht ihn auf diesem Foto, ist betroffen und blättert kurze Zeit später einfach weiter.

Aber das Grauen geht weiter!

Sein Bruder und seine Mutter - ebenfalls ertrunken. Nur der Vater überlebt.
Ich versuche, mich in diesen Vater hinein zu versetzen - es geht nicht. Ich kann es nicht! Mit ansehen zu müssen, wie die eigenen Kinder ertrinken! Das übersteigt meine Vorstellungskraft!

Ich bin 45 Jahre alt und habe noch nie einen Toten gesehen.
Ich kenne keinen Krieg, keinen Hunger, keine Verfolgung.
Dinge, mit denen Millionen Menschen auf der Welt täglich zu kämpfen haben.
Ich danke dem Schicksal dafür, daß ich hier und zu dieser Zeit geboren wurde.

Der kleine Junge hatte dieses Glück nicht. Er kam vor drei Jahren in Kobane in Syrien zur Welt. Und er starb jetzt vor der türkischen Küste. Weil seine Eltern verzweifelt genug waren, um sich auf dieses Himmelfahrtskommando zu begeben.
Allein der Gedanke, meine Kinder in eine völlig überfüllte Nussschale zu stecken, um über das Meer zu kommen, macht mich wahnsinnig!

Doch plötzlich löst sich meine Schockstarre. Ein neues Gefühl drängt nach oben - Wut!

Wut auf die Schlepper, die am Leid der Flüchtlinge verdienen und denen es offensichtlich egal ist, wieviele Menschen dabei umkommen! Die Menschen in LKW's sperren und sie dort jämmerlich verrecken lassen! Unbegreiflich!

Jeden Tag erreichen uns neue Schreckensmeldungen. Wir registrieren sie und versuchen gleichzeitig, sie so schnell wie möglich zu vergessen. Warum rührt uns das Schicksal dieses einen Jungen also?

Im Film "Schindler's Liste" ist es ein kleines Mädchen im roten Mantel, das symbolisch für das Leid aller Ghetto-Insassen aus dem schwarz/weiß-Film heraus ragt.
Das Bild des Jungen im roten Pullover hat die gleiche Wirkung. So wie er sterben mittlerweile täglich Menschen bei dem Versuch, der tötlichen Spirale aus Verfolgung und Krieg zu entkommen.

Und mich beschleicht das ungute Gefühl, daß das erst der Anfang ist!

Wir werden uns bewegen müssen! Lösungen finden. Wir werden unsere komfortable Ecke verlassen müssen! Die Jahre des Friedens und Wohlstandes sind vorbei! Der Krieg findet direkt vor unserer Haustür statt!
Meine Generation hat ihn nicht verschuldet. Aber wir sind gefordert, diese Konflikte zu lösen. Zum Wohle unserer Kinder! Damit ihnen solche Schicksale erspart bleiben!

Ich schaue noch einmal auf das Bild. Die Wut weicht der Ohnmacht.
Wieviele ähnliche Bilder werde ich noch sehen müssen?
Ich fühle mich ausgehöhlt und leer. ES IST ZU VIEL!

Ich muß neue Kraft tanken - im Urlaub. In den Herbstferien werden wir uns einen kleinen Traum erfüllen. Lange geplant und vor einem knappen Jahr gebucht.

Wir fahren nach Griechenland - auf die Insel Kos!

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